Wenn man nach 36 Stunden Zugfahrt gerne noch weiterfahren möchte, dann muss man von netten Menschen umgeben sein. Wir reisen quer durch die kasachische Steppe, sehen unsere ersten Kamele auf der Reise und lernen die usbekisch-kasachische Gastfreundschaft kennen. In der historischen Stadt Bukhara steigen wir aus und tauchen mit ihren blauen Moscheedächern und orientalischen Märkten direkt in die Welt von 1001 Nacht ein.
Wir sind in Atyrau, Kasachstan. Es ist gut zu wissen, dass die Durchquerung Russlands nun nicht mehr vor uns liegt, insbesondere mit den Erfahrungen der letzten Tage. Große Erleichterung kommt auf, als wir aus dem Zug steigen und früh am Morgen durch die noch menschenleere Stadt laufen. Mit Ausruhen ist jedoch nichts. Wir verweilen bei unserem ersten Besuch keine 24 Stunden im Land. Heute Abend übernachten wir in einem kleinen alten Nebengebäude unseres heutigen Couchsurfing-Hosts. Ein eher zusammengefallener Bretterverschlag, durch dessen Ritzen die Mücken mit der warmen Luft schier hineingedrückt werden. Wir haben im Nachtzug aus Russland hierher schon nicht viel geschlafen und heute gehen wir auch sehr spät ins Bett. Schließlich haben wir nur einen Abend zusammen mit Bekbolat und seiner Familie. Allerdings müssen wir am nächsten Morgen auch wieder früh raus. Zum Morgengrauen startet unser Zug quer durch die kasachische Steppe bis nach Bukhara in Usbekistan.
Ohne eigenen fahrbaren Untersatz möchten wir die weite Steppe nicht durchqueren. Der Zug ist eineinhalb Tage unterwegs, da können wir uns ausrechnen, wie lange wir durch das Gebiet trampen würden. Noch dazu sind kaum Verpflegungspunkte oder überhaupt irgendetwas auf den Landkarten verzeichnet. Während wir also ausrechnen, wie viel Wasser und Proviant wir wohl mitnehmen müssen, beschließen wir, dass es zu viel ist.
„Eine Zugfahrt die ist lustig, eine Zugfahrt die ist schön.“
„…ja da kann man was erleben, ja da kann man etwas sehen.“, singt es in unserem Kopf, wenn wir an die 36-stündige Zugfahrt durch Kasachstan denken. Der Blick aus dem Fenster in die kasachische Steppe ist ziemlich eintönig. Wir sehen zwar die ersten Kamele auf unserer Reise, die zu einer freudigen Aufregung führen, aber diese hält wohl nicht für die ganze restliche Fahrt an.
Für das Entertainment-Programm ist aber anderweitig gesorgt. Zu allererst sind wir selbst das Entertainment Programm der Mitfahrenden. Und das nicht nur wegen meiner wilden Farbkombinationen, die ich mit einer roten Leggings, grünen Socken und gelber Jacke heute trage, sondern vielmehr dadurch, dass wir die einzigen TouristInnen hier sind. Außerdem wissen wir nicht wie es im kasachischen Schlafwagen so abläuft und so stehen wir etwas unschlüssig mit unseren riesigen Backpacks, den zusätzlichen kleinen Rucksäcken und einer überdimensionalen Provianttasche im Gang.
Die Abteile hier im Zug oder zumindest in der zweiten Klasse sind nicht abgeteilt. Es liegen sich immer zwei Doppelstockbetten gegenüber und an der Stirnseite befindet sich ein weiteres Doppelstockbett. Unser Abteil befindet sich direkt neben der Schaffnerkabine. Jeder Wagen hat zwei ihm zugeordnete Schaffner, die sich neben den Tickets auch um „Ruhe und Ordnung“ kümmern. Das hört sich jetzt vielleicht erstmal streng an, aber so streng waren die beiden gar nicht und wir haben ihre Anwesenheit sehr geschätzt. Sie kümmern sich um heißes Wasser, das zur freien Verfügung steht, fegen regelmäßig die Gänge, kündigen Pausen und den Grenzübergang an. Am Abend verdunkeln sie zur Schlafenszeit den Zug und sind auch sonst eine große Bereicherung.
Aber nicht nur die Schaffner helfen uns, sich schnell zurecht zu finden. Auch unser Nachbar Abdulmutalib begrüßt uns herzlich und zeigt uns alles, als hätte er nur auf uns gewartet. Wir verstehen uns richtig gut und das ohne Worte, denn wir sprechen leider kein Usbekisch und Abdulmutalib kein Englisch. Wir erfahren trotzdem von seinen drei Kindern, seinem Beruf als Konstrukteur in Russland, seiner Frau, seinem Gemüsegarten und der Liebe zu seinem Land. Alles ganz ohne Übersetzer. Dafür mit vielen Fotos und Pantomimen. In unserem Reisealltag ist für diese, oft langwierige aber eigentlich so schöne Kommunikation keine Zeit. Bei kurzen Erklärungen ist es schwierig eine eigene Sprache mit den Leuten zu entwickeln und es werden auf beiden Seiten lieber schnell die Handys zum Übersetzen gezückt. Hier im Zug ist das anders. Wir haben genug Zeit einen Weg der Verständigung ohne Worte zu finden und wir kommen mit dem halben Wagon ins „Gespräch“.
So wird unser Nachbar Abdulmutalib auch ohne Englischkenntnisse zum „Perevodchik“, zum Dolmetscher für uns. Jedem der es hören möchte oder auch nicht hören möchte und an unserem Abteil vorbeikommt, erzählt er unsere Lebensgeschichte, woher wir kommen, wo wir schon waren und natürlich, dass wir jetzt in sein wunderschönes Land Usbekistan fahren. Er bringt uns außerdem die ersten usbekischen Wörter wie „Rahmad“ (Danke), „shamolli“ (Wind) und „Non“ (Brot) bei. Als der Zug für 30 min. an einem Bahnhof mit kleinen Obstständen hält, teilen wir uns eine usbekische Frühstücksmelone, denn die sind schließlich die besten der Welt, verkündet uns Abdulmutalib stolz. Und da müssen wir ihm zustimmen. Es ist die süßeste Melone, die wir je gegessen haben. Allerdings hält sich bei uns beiden „deutschen Kartoffeln“, die Melonenerfahrung ehrlicherweise auch in Grenzen.
Zuckersüß ist auch das kleine Mädchen aus dem Nachbarabteil, dass die nächsten rund 20 Stunden bei uns verbringt. Zunächst erschrecken wir die Kleine jedoch unbeabsichtigt. Als wir einsteigen schläft sie im Bett unserem Abteil gegenüber und als sie ihre Augen öffnet, weiten sie sich schnell zu einem erschrockenen fast schon panischen Gesichtsausdruck, als sie uns blonde Gestalten, statt ihrer Familie erblickt. Abdulmutalib zeigt der Kleinen schnell ihre Mutter, die mit dem kleinen Geschwisterchen ein Abteil weiter sitzt. Da die Abteile offen sind, ist es keine Seltenheit, dass Familienmitglieder auch auf die gegenüberliegenden Betten ausweichen und die Kinder den kompletten Wagon zu ihrem Spielplatz werden lassen. Nachdem sie die Lage überblickt hat, mustert sie uns aufmerksam und kommt vorsichtig zu uns herüber. Aus dem vorsichtigen heranpirschen wird schnell ein tollkühnes Toben und Springen. Ich habe angefangen Turnübungen anzuleiten und komme aus der Rolle jetzt nicht mehr raus, obwohl meine Arme langsam schlapp machen. Das wird wohl Muskelkater geben. Müde ist die Kleine jedoch gar nicht. Chris muss sie immer wieder auffangen, wenn sie sich möglichst plötzlich und theatralisch in seine Arme fallen lässt.
Als die Kleine sich zum Schlafen zu ihrer Mama legt, geht unser Entertainment Programm anderweitig weiter. Denn nun beginnt in den Gängen ein wildes Treiben. Unzählige HändlerInnen laufen durch die Gänge. Angeboten werden Elektrogeräte, geräucherter Fisch, Brot, Somsa (gefüllte Blätterteigtaschen), Obst, Geldwechsel, Kosmetik. Das zieht sich durch die ganze Nacht. Unser Freund Abdulmutalib kauft einen Rasierer mit aufgedruckter Deutschland Flagge. „Good quality!“, strahlt er uns an. Bei genauer Ansicht steht drunter „Designed in G.D.R. - Produced in P.R.C.“ Aber dass es wohl wenn überhaupt nur in Deutschland designend wurde und dann auch noch in der (eigentlich) seit 1993 nicht mehr bestehenden DDR, wäre für uns zu schwierig pantomimisch darzustellen. Wir gratulieren lächelnd zum erfolgreichen Erwerb der natürlich Echtgold verchromten Maschine.
Am Ende der Fahrt kennt der ganze Zug die einzigen beiden Touris an Bord, aus „Germaniya“. Wir werden am Bahngleis von unzähligen Leuten, sowie dem Zugpersonal verabschiedet und haben diverse Einladungen für die nächsten Wochen im Gepäck. Vielleicht können wir die ein oder andere Einladung ja sogar wahrnehmen, schön wäre es.
Eintauchen in die Welt von 1001 Nacht
Als wir in Bukhara stehen sind wir erschlagen. Erschlagen von der unglaublichen Zugfahrt, der Hitze die draußen herrscht, den Taxifahrern, die ihre Fahrten anbieten und den wunderschönen orientalischen Gebäuden mit ihren blauen Kuppeln, die hier auf uns warten.
Unser Gastgeber Schinouk holt uns ab und führt uns in seinen Fitnessraum, unser Schlaflager für die nächsten Tage. Ein einfacher Kellerraum in einem klassischen Ostblock-Plattenbau aber funktionsfähig mit dicken Matratzen auf dem Boden und sogar einem kleinen Fenster. Schinouk wohnt zwei Häuserblocks entfernt. Wir hoffen also nachts nicht auf Toilette zu müssen, denn die gibt es schließlich nicht. Und im nächtlichen Drang, in einem muslimischen Land blankzuziehen, um in den grünen Seitenstreifen gegenüber des Hauses zu pinkeln, kommt vielleicht nicht so gut an. Also wird abends nicht mehr so viel getrunken und jede Gelegenheit in der Stadt zum Pinkeln genutzt.
Unser Gastgeber ist nebenberuflich Cityguide und ein Geschichtsnerd noch dazu. Er hat ein kleines Bukhara-Quiz für uns vorbereitet. Wir raten welche Funktionen die Gebäude einmal hatten, warum sie bestimmte architektonische Besonderheiten aufweisen, schätzen das Alter oder rätseln über die Namensgebung. Da ist zum Beispiel ein tieferliegender Innenhof in einem Carré das von Cafés gesäumt ist. Es erinnert an einen Parkplatz. Aber Autos hatten die Leute damals noch nicht, außerdem ist der Zugang durch die Stufen für Autos oder ähnliches versperrt. Kutschen und Wagen hatten die Leute hier nicht viel, dafür mehr Kamele, lernen wir. Es ist eine Parkfläche für Kamele und da die ziemlich groß sind, wurde der „Kamel-Parkplatz“ tiefer gelegt um von oben entspannt aufsteigen zu können. Dann gibt es noch den Platz der 12 Säulen, tatsächlich zählen wir aber nur 6 Säulen im Vordach der Moschee. Als wir herumgehen, um die weiteren 6 Säulen zu finden, schauen wir ins davor liegende Trinkwasser Reservoir in denen sich die Säulen spiegeln und so zu 12 werden. So erfahren wir beim Rätseln immer mehr lustige Geschichten, die uns im Kopf bleiben. Wir sind happy über diese besondere Art eine Stadt zu erkunden.
Als wir unsere Gastgeber am Abend zum Essen einladen, bekommen wir bei der Rechnung von über 100.000 Geld fast einen Herzinfarkt. Ja, es war ein gutes Essen, aber gleich sechsstellig? Bis uns dann wieder einfällt, dass der Umrechnungskurs 1€ zu 13.000 usbekischer Som ist. In Usbekistan werden wir somit (zum ersten Mal) zu Millionären. Es fühlt sich wild an, wie ein Gebrauchtwagenhändler mit einem Geldbündel herumzulaufen. Kartenzahlung funktioniert hier selten, somit haben wir trotz kleinem Reisebudget eine große Rolle an Scheinen in der Tasche. Um das Budget weiter zu schonen und insbesondere viele Menschen kennenzulernen wollen wir auch in Usbekistan möglichst viele Kilometer per Anhalter zurücklegen und sind gespannt, ob es in zentral Asien klappt. Auf der nächsten Strecke wird uns da jedoch ein Strich durch die Rechnung gemacht, ein erfreulicher Strich…
Kurzes Update: Abdulmutalib unser liebster Nachbar auf der Zugfahrt ruft übrigens immer noch regelmäßig gerne an. Wenn es jedoch nicht gerade per Video und mit seinem ältesten Sohn ist, der ein wenig Englisch spricht, ist die Kommunikation per Telefon ohne Worte doch eine große Herausforderung. Dennoch freuen wir uns immer über das kurze Kontakthalten.
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